Abtauchen ins Mittelmeer
Sehr geehrter Herr Regierungsrat,
sehr geehrte Damen und Herren
und vor allem – liebe Jugendliche –
es freut mich sehr, Sie heute Abend zu einer kleinen nautischen Reise verführen zu dürfen.
Nein, nicht übers Meer wird es gehen, sondern unterm Meer hindurch, in die Tiefen. Mal werden es nur ein paar wenige Meter sein, wir werden die Schrauben der Schiffe über uns hinweg noch hören, wir werden das gepeitschte Wasser noch sehen, helle Blasen im Sonnenlicht. Dann aber werden wir herabsinken, dortin, wo es nur noch dunkel ist und so still wie in der Steinwüste von Tamanghasset, wenn der Wind sich gelegt hat und kein Sandkorn sich mehr regt.
Und ja – wir werden nur ein bestimmtes Meer durchtauchen, und auch dieses nur teilweise.
Das Meer, das ich gut kenne, als Segler, als gelegentlich Schnorchelnder, als Reisender, als Autor einer Geschichte, die in diesem Meer ihren Anfang nimmt und auch ihr Ende, es ist das Meer von Abdoulaye, dem Protagonisten in meinem Buch, dem Flüchtling aus Mali, es ist das Meer von Claude, der auf diesem Meer Schiffbruch erleidet, und es ist das Meer, das uns geografisch und kulturell am nächsten liegt – das Mittelmeer.
Ein kleines Meer, in der Tat, aber vielleicht werden wir auf unserer Unterwasserreise Einsichten gewinnen, die auch für andere Meere dieser Erde gültig sind. Denn hier wie dort haben die Tiefen des Meeres mehr mit den Menschen da oben zu tun, als wir meinen – mit denen an den nahen Küstenstädten, den Dörfern, aber auch mit denen auf dem flachen Land, weit ab vom Mare nostrum, unserem Meer.
Bereit also zu einem Tauchgang?
Dann mal los.
Sieben mal werden wir abtauchen.
1.
Wir stehem am südlichsten Zipfel Spaniens, in Tarifa, der kleinen, schmicken Stadt, die hinüber nach Afrika blickt, nach Marokko, über die Meerenge von Gibraltar, dem estrecho. Genauer gresagt – wir stehen mitten auf dem schmalen Damm, der die Stadt verbindet mir der Isla de las Palomas.
Für heute vergessen wir:
Dass hinter den Mauern des unansehnlichen, grobschlächtigen alten Forts auf der Isla ein Auffanglager für Flüchtlinge eingerichtet ist, für Menschen, die von Marokko her übers Meer kamen. Es geschafft haben, trotz der riesigen Radaranlagen beidseits des estrecho, sie haben die Patrouillen der spanischen Marine überlistet, es sind Menschen, die am Strand gelandet sind, an dem Strand, den wir sehen, von hier aus. Sie kamen an, mitten in der Nacht, und es wurde ihnen geholfen, denn da waren Anwohner, die Menschen von Tarifa – mit warmen Kleidern, mit Essen, mit Schuhen. Einige kamen auch bei Tag, und Nieves García Benito, die Lehrerin in der Schule über dem Strand, sie ist dann jeweils mit der ganzen Schulklasse zum Strand gegangen, um zu helfen. Jahrelang ging das so, berührende Begegnungen sind da entstanden, und Nieves García Benito ist noch heute die zentrale Figur jener Menschenfreundlichkeit, die die Bewohner von Tarifa auszeichnet.
Por la Via de Tarifa heisst das Buch, das sie geschrieben hat.
Wir gehen in die umgekehrte Richtung, und untendurch.
Nicht rechter Hand, dort, wo ein grosses Schild anzeigt «ATLANTICO», sondern links beim Schild «MEDITERRANEO». Wir warten, bis die Fähre nach Tanger, dieses rote Ungetüm das Hafenbecken verlassen hat, klettern behutsam über die Felsen, suchen eine geeignete Stelle – und holen tief Luft.
Wie ein Fisch schwimmen wir davon, kräftig, wie ein Orca, ein Schwertwal, wir sind in guter Gesellschaft, denn hier wimmelt es von Walen aller Art. Wir lassen die Küste rasch hinter uns, siehen Kilometer weit, bis in die Mitte der Strasse von Gibraltar, und wir lassen uns absinken hier, langsam, langsam. Es wird dunkel, still, und wir meinen, wir würden stillstehen. Aber weit gefehlt, wir bewegen uns, ziemlich schnell sogar, denn uns hat eine gewaltige Strömung erfasset, sie treibt uns ostwärts, ins Mittelmeer hinein. Waren wir klug genug, um ein wasserdichtes GPS mitzunehmen, könnten wir unsere Geschwindigkeit messen – dreieinhalb bis fünf Kilometer pro Stunde, je nach Gezeiten sind es.
Hervorgerufen wird dieser Strom durch den Niveauunterschied zwischen Atlantik und Mittelmeer – dieses liegt etwa eineinhalb Meter tiefer als der Atlantik, weil im Mittelmeer mehr Wasser verdunstet, als ihm durch Flüsse zugeführt wird. Und das Wasser aus dem Atlantik ist salzarmer, leichter, also rauscht es ins Mittelmeer hinein, während tiefer unten, dreihundert Meter und noch weiter hinab, ein anderer Strom rauscht – ein salzhaltiger, also schwerer Wasserstrom, der Wasser aus dem Mittelmeer hinaustransportiert, hinaus in den Atlantik. Ein Strom, den die Phönikier bereits nutzten, um gegen den Oberflächenstrom voranzukommen, wenn sie hinaus auf den Atlantik wollten, indem sie Treibanker absenkten, hinab in die Tiefe des ausströmenden Wassers.
Ein gewaltiges Pumpwerk.
Und dieses Pumpwerk ist nur eines unter sehr vielen im Mittelmeer, weil das Meer ist wie ein grosser, atmender Oganismus, der durch warme und kalte, salzhaltige und salzarme, flache und breite Strömungen am Leben erhalten wird; und darum ist das Wasser vor Nizza oft kälter als anderswo, deshalb gibt es in der Strasse von Messina gefährliche Mahlströme, die schon Odysseus zum Verhängnis wurden, darum kann es mitten im Sommer plötzlich Nebel geben vor der Südspitze Sardiniens. Und wir lernen, dass das Meer nicht nur eine grosse Pumpe ist, sondern dass es verantwortlich ist für unser Klima – dass die steigenden Temperaturen des Mittelmeers das Wetter in Europa beeinflussen, ist mittlerweile gesichert, aber nicht nur das:
Dem Mittelmeer droht, wenn nicht bald etwas geschieht, der langsame Tod.
Das Wasser, in dem wir gerade schwimmen, ist angenehm warm, und tatsächlich – die Temperatur des Mittelmeers ist in den vergangenen 25 Jahren bereits um 0,75 Grad gestiegen, berechneten die Forscher des Projekts «Mediterranean Sea Acidification in a changing climate», und steigende Temperaturen bedeuten den Tod vor allem jener Pflanzenart, die für die Sauerstoffzufuhr des Mittelmeers lebenswichtig ist, die Posidonia, das Seegras.
Was wir also durchtauchen, in den nächsten Stationen, ist vor allem eins: ein gefährdetes Meer.
Aber prustend tauchen wir auf und sehen vor uns den Hafen von Ceuta. Willkommen in Afrika!
2.
Ceuta, die spanische Exklave auf dem afrikanischen Kontinent, verdankt ihren Namen den sieben Hügeln, welche die Stadt umgeben, Djibel Musa auf arabisch, aber die Römer nannten Hügel «Septem Fratres», und daraus entstand die Kurzform Septa, arabisch Sephta für Sieben, und dann eben: Ceuta.
Namen sind immer auch Erinnerung, sind Teil der Geschichte, das ist für Städte und Dörfer nichts Neues.
Aber was ist, wenn wir wieder abtauchen, uns davonmachen unter Wasser, wenn wir ostwärts tauchen, zunächst zweihundert Meter tief, hinab in die hügeligen Untergründe des Meeres. Warum heisst dieses Gebirge unter Wasser, das unvermittelt vor uns auftaucht, ein mächtiger Hügel – warum heisst der «Xauen Bank», und jener spitze, hoch aufragende Unterwasserberg vor Al Hoceima, warum heisst der «Tofiña Bank». Der Namen «Xauen» verweist auf die Stadt Chefaouen am Ufer, so weit ist alles klar, aber für die Herkunft des Namens «Tofiña» finden wir keinen Hinweis.
Wir lernen:
Auch hier, tief unter der Wasseroberfläche, in diesen unterirdischen Tälern und Hügellandschaften, ist vieles mit Namen versehen, mit Bezeichnungen. So könnten wir den Fischern von Al Hoceima mitteilen, wir hätten Fischschwärme gesehen zwischen der «Tofiña» Erhebung und dem Alboran-Riff, und sie wüssten genau, welche Stelle des Meeres wir meinen. Und die Tiefseeforscher, ganz klar – sie könnten es nachvollziehen, wenn wir sagten, dass wir uns nun auf 1007 Metern unter der Meeresoberfläche befinden, und abtauchten ins riesige, fast zweitausendsiebenhundert Meter tiefe Algerische Becken, das sich weit Richtung Osten zieht.
Und es ist alles kartografiert, vermessen, da unten.
So bewegen wir uns denn über Landschaften mit Namen, gedacht zur Verständigung unter Ozeanographen, Geologen, Kartographen. Sie waren es, die am Internationalen Geographischen Kongress in Berlin achtzehnhundertneunundneunzig den Beschluss fassten, eine umfassende Tiefenkarte der Ozeane anzufertigen, um die Landschaften da unter Wasser zu erfassen. So wollte es auch Fürst Albert der Erste von Monaco, der neunzehnhundertdrei die Richtlinien für die Gestaltung der ersten Bathymetric Chart of the Oceans festlegte, und bereits neunzehnhundertvier lagen für das Mittelmeer achtzehntausendvierhundert Lotungen vor, achtzehntausendvierhundert Mal wurde ein Faden in die Tiefe gelassen, die Länge gemessen, achtzehntausendvierhundert Mal ein Punkt auf der Karte eingetragen, bis sich ein Bild ergab von einer Landschaft unter der Oberfläche, eine Arbeit von unendlicher Mühe bis zum Einsatz des Echolots zu Beginn der neunzehnzwanziger Jahre.
Nicht nur die Ufer des Mittelmeers wollten erobert sein, sondern auch deren Tiefen.
Erdölkonzerne sind an dem interessiert, was unter dem Meeresuntergrund liegt, die Explorationen gehen tiefer, heute. Mit Druckluftkanonen, die ein Mehrfaches an Lärm eines Düsenjägers verursachen, wollten der schottische Konzern Cairn Energy und die britische Firma Spectrum Geo Limited vor Ibiza und Mallorca nach Öl und Gas suchen – der Protest der Menschen auf den Inseln war so gross, dass das Vorhaben aufgegeben wurde.
Vorderhand.
3.
Mit einer Delfinschule haben wir die weite Sardino-Balearische Ebene durchschwommen, vorbei an den Felibres-Hügeln, den Calypso-Hügeln, und dann, ganz plötzlich, steigt der Meeresgrund an, tausend Meter und mehr. Wir nehmen ein tiefes Tal, steigen auf, bis das Wasser nur noch etwa hundert Meter tief ist.
Linker Hand liegt jetzt Marseille.
Und nein, wir steigen nicht auf bis zur Wasseroberfläche. Denn es ist Sonntag, und sonntags fahren alle, die es sich leisten können, mit ihren kleinen, grossen, mittelgrossen Motorbooten von Bucht zu Bucht, alle auf der Suche nach maritimer Einsamkeit. Ein regelrechtes Gewusel ist auf dem Wasser, und selbst unter Wasser sind sie zu hören, die Motoren, die Schrauben, die das Wasser durchpflügen, und niemandem Ruhe lassen, auch nicht den Fischschwärmen da unten.
Wir suchen den Eingang zu einer Höhle, unter Wasser.
Es ist der Eingang zu einer Grotte, die vor rund 27'000 bis 19'000 Jahren bewohnt war, die Grotte Cosquer, benannt nach ihrem Entdecker, dem professionellen Taucher Henri Cosquer, der den Eingang zur Grotte 1985 erstmals entdeckte. Ein langer, 175 Meter langer Schacht führt unter Wasser zur Grotte, er ist schwierig zu durchtauchen, drei Taucher mussten hier ihr Leben lassen; wir tasten uns vorsichtig voran, tauchen auf und finden uns in einer riesigen Höhle wieder. An den Wänden, das sehen wir im Schein unserer Taschenlampen, die Abbildungen von Tieren – Hirsche, fliehende Pferde – Vögel, darunter auch Pinguine, und immer wieder Hände; kostbare Zeugen davon, dass hier Menschen ihre Spuren hinterlassen haben.
Doch warum liegt diese Grotte unter Wasser.
Die Antwort ist einfach.
Zu der Zeit, als Menschen in dieser Grotte ein und aus gingen, vielleicht darin gewohnt haben, vielleicht aber hier nur ihre Rituale durchführten – zu der Zeit lag der Spiegel des Mittelmeers etwa 100 bis 120 Meter unter dem heutigen Niveau. Das ganze Meer vor dem heutigen Marseille war eine grosse, vermutlich grün blühende Ebene, das Ufer des Mittelmeers lag etwa 11 Kilometer vor der Grotte Cosquer. Die letzte Eiszeit hatte dazu geführt, dass sich in der nördlichen und in der südlichen Hemisphäre enorme Eismassen bildeten, eigentliche Bunker von Wasser – Wasser, das aus den Meeren gewissermassen abgezogen wurde. Und – erst mit dem Beginn des Holozäns, dem Ende der Eiszeit, stieg der Meeresspiegel wieder an, und er blieb stabil bis beinahe heute.
Das Mittelmeer, wie andere Meere auch, verändert sich mit dem Klima.
Heute dehnt es sich aus, es wächst, es steigt an.
Um bis zu 6 Centimeter könnte der Meeresspiegel des Mittelmeers ansteigen, wenn die Erdtemperatur sich um 2,5 Grad erwärmt, das sind die gesicherten Daten aus vielen Studien. Um wie viel mehr sich der Meeresspiegel anheben würde, wenn die Menschheit es nicht schafft, die Temperatur des Planeten unter 2 Grad zu halten, ist nicht voraussehbar, weil auch im Mittelmeer gilt, was bei anderen Klimaphänomenen zu beobachten ist: dass unkontrollierbare Effekte auftreten können, wenn einmal ein bestimmer Punkt, ein sogenannter «Tipping Point», ein Kipppunkt, erreicht ist.
Nicht undenkbar, dass in hundert Jahren Taucher sich auf hoher See ins Wasser fallen lassen, und wenn wir sie fragen würden, wonach sie tauchen, sagten sie uns «nach Sainte-Marie-Majeure de Marseille, man weiss das schon gar nicht mehr, die frühere Cathédrale de la Major von Marseille».
4.
Das Meer, meine Damen und Herren, werte Jugendliche, das Meer in dem wir unterwegs sind – es ist höchst lebendig.
Es pulsieren in seinem Untergrund tiefliegende Strömungen, seine Täler und Furchen tragen eigene, teilweise seltsame Namen, es ist geschrumpft über die Jahrtausende, es dehnt sich wieder aus; und natürlich ist es belebt, unzählige Fische, haben unsere Wege gekreuzt, tief unten im Meer, Tintenfische, Rochen, Delfine, Orcas, Quallen in allen Farben.
Aber – hat das Leben, hat die Geschichte auch Spuren hinterlassen, im Meer.
Sanft und beschaulich schweben wir der korsischen Küste entlang, durch die Strasse von Bonifacio, immer wieder bewegt von den Wellen, die der scharfe Maestrale auftürmt. Unser Blick ist auf den Meeresboden gerichtet, denn wir wissen – hier, zwischen den Inseln des Archipels von La Maddalena, in dieser Meeresenge, in denen oft heftige Stürme toben, hier müssen Wracks von Schiffen besonders zahlreich sein. Aber wir sehen sie nicht, und wir sehen sie auch andernorts nichts – sehen nicht die Resten der Piratenschiffe, die vor der Küste Amalfis ihr Unwesen trieben, wir sehen nicht die Wracks der pfeilschnellen Galeeren der Sarazenen, nicht einmal historische Ereignisse wie die Seeschlacht von Lepanto, mit der die jahrzehntelange Herrschaft der Türken im östlichen Mittelmeer beendet wurde, eine Schlacht mit tausenden Toten und hunderten versenkten Schiffen, nicht einmal diese Schlacht zeigt sich am Meeresuntergrund. Die Ereignisse der Zeit, sie sind von Sand und Schlick überzogen, keine Ruinen säumen den Meeresboden, wie zu Land, nicht einmal Erhebungen, die auf Bauten schliessen lassen; alles verschwindet, und es braucht viel Anstrengung, oder es braucht Glück, um einen Schatz wie den des gesunkenen Frachters vor Antikithera bergen zu können. Einzig die unzähligen Wracks aus neuerer Zeit, die abgestürzten Flugzeuge, die Fregatten, die Unterseeboote, die gesunkenen Frachter und die Passagierschiffe, die mit Mann und Maus untergingen, sie sind noch sichtbar, grandiose, gebrochene, unheimliche Zeugen ihrer selbst, Schiffe und Flugzeuge, die nicht dorthin gehören.
Und auch sie wird das Meer langsam korrodieren, mit Sand und Schlick zudecken, irgendwann.
In vielen hundert Jahren werden vielleicht wieder Taucher tauchen, ausgestattet mit ihren Sonaren und ihren Ultraschallgeräten, sie werden in den Sedimenten des Meeres nach den Umrissen alter B52-Bomber forschen, sie werden die allerletzten Überreste der Heaven, jenes Tankers, der im Golf von Neapel explodierte und sank, erkunden und versuchen, seine Dimensionen zu erkennen.
Wird es aber, frage ich mich, auch letzte lesbare Spuren geben von dem, was sich seit ein paar Jahren im südlichen Mittelmeer abspielt, vor Lampedusa, bis hin zur libyschen Küste.
Was wird noch sichtbar sein von der Tragödie, die sich auf diesem Meer Tag für Tag abspielt. Die tausenden, die abertausenden Flüchtlinge, die hier ertrunken sind, welche Spuren hinterlassen sie in diesem Meer – die Wracks der morschen Barkassen, sie werden rasch zerfallen, die Schlauchboote, sie werden an irgendwelchen Küsten angetrieben, und wer auf diesen Booten unterwegs war, der trug so wenig auf sich, dass nichts auf dem Meeresboden auffindbar sein wird. Eine Münze vielleicht, aus Asmara mitgebracht als Glücksbringer, der Talisman eines Féticheurs aus Gao, eine Haarspange, vor Jahren gekauft auf dem Markt von Aleppo, als die Zeiten noch friedlich waren.
5.
Vor Lampedusa sind wir gelandet.
Und hier steigen wir aus dem Meer.
Etwas aufgeweicht von der langen Unterwasserreise, der eine oder der andere von uns hat Seetang im Haar, unser Blick, an die Halbdunkelheit unter Wasser gewöhnt, scheut das Sonnenlicht. Blinzelnd machen wir uns auf den Weg, etwas schwankend auch, weil wir das Gehen kaum mehr gewohnt sind, steigen über Stock und Stein.
Bei einem Fischer, der seine Netze flickt, erkundigen wir uns nach der eine kleinen Kappelle, wir wissen, sie ist weiss getüncht, sie steht mitten in der Landschaft. Die Fassade schlicht, so hat man es uns erzählt, ein schlanker Turm, und hinter dem Eingang eine Grotte mit drei Gebetsstätten, eine für Juden, eine für Muslime, eine für Christen.
Das Santuario della Madonna di Porto Salvo, das erzählt uns der Fischer, war über Jahrhunderte ein gemeinsamer Gebetsort für alle, die hier einkehren wollten oder mussten. Er war ein Zufluchtsort für Schiffbrüchige, die in der Kapelle stets warme Decken und etwas zu essen vorfanden, bereitgelegt von den Bewohnern Lampedusa. Und bis heute ist er ein Zeichen dafür, dass Religion und Herkunft keine Rolle spielen, wenn Menschen in Seenot sind – in der Not sind alle gleich.
Der Fischer, er wird uns vielleicht sagen, dass die die Tradition, Flüchtlingen zu Hilfe zu kommen, sich gehalten hat bis heute, auf Lampedusa. Dass die Bürgermeisterin von Lampedusa, Chiusi Nicolini, als allererste diese Haltung vertritt, wenn sie sagt, ihre Insel müsse einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Einwanderungs- und Asylpolitik in Europa ändert.
Und vielleicht erfahren wir hier, anhand des Santuario della Madonna di Porto Salvo, dass Orte wie Lampedusa die Spuren der vielfältigen, oft kriegerischen, oft aber auch friedlichen Begegnungen von Menschen mit unterschiedlichen Religionen, Kulturen buchstäblich auf sich tragen. Wir lernen, dass es rund ums Mittelmeer, gerade an den Küsten, viele Städte und Dörfer gibt, die Flüchtlinge offen empfangen. Orte, von denen wir noch nie etwas gehört haben. Acireale auf Sizilien, wo Freiwillige den Flüchtlingen italienisch beibringen, auch in Catania, wo viele ankommen, wird geholfen, vielerorts. Nicht von den Behörden, von Freiwilligen.
Der Fischer wird vielleicht aufs Meer hinausschauen und auf eine dieser dümpelnden, kaum seetüchtigen Barkassen zeigen, die am Horizont auftaucht. Mag sein, dass er uns darauf hinweist - diejenigen, die lange schon unmittelbar mit den sogenannt Fremden zu tun hatten, haben am wenigsten Ängste. Die Menschen auf Lampedusa leben (bei allem Konflikten) die Tradition des Mittelmeers fort, einen Raum des Tauschs, des Austauschs, des Widerspruchs auch. Sie sind, wie es der grosse Mittelmeerforscher Fernand Braudel ausdrückte, Ausdruck einer «aus Ungleichartigem zusammengesetzen Welt», die vielgestaltig ist und in steter Veränderung, in der Kriege ebenso Tradition haben wie grossherzige Gastfreundschaft.
Aber nehmen wir wieder tief Luft, wir tauchen nochmals ab.
6.
Der vorletzte Tauchgang, wir kreuzen jetzt die vielbefahrene Route zwischen Lampedusa, Pantelleria, Malta und dem tunesischen Festland.
Nicht an die lybische Küste wollen wir, das wäre zu gefährlich, aber Tunesien geht, wenn wir tief genug tauchen, um nicht in gefährlichen Kontakt einem der Cargoschiffe zu kommen, mit einem Tanker, einem Patrouillenboot der Marine.
Wir halten Kurs, gelangen an unser Ziel, der Strand von Zarzis ist in Sichtweite.
Es ist Morgen, und wir sind gerade noch rechtzeitig angekommen, um einen Mann zu beobachten, der dem Strand entlang geht, einen grossen Sack über die Schulter geworfen. Er geht, bückt sich, wirft eine Plastikflasche in den Sack, noch eine, einen Schuh jetzt, dann ein Stück Holz, wieder einen Turnschuh, eine Plastiflasche. Jeden Morgen ist er anzutreffen, an diesem Strand, Lihidheb Mohsen, er sammelt Treibgut zusammen, alles, was das Meer auf den Strand spült – das, was von den untergegangenen Flüchtlingsbooten übrigbleibt, das, was Menschen ins Meer warfen in ihrer verzweifelten, unberechenbaren Flucht.
Lihidheb Mohsen, er war früher Postbote, hat seit einigen Jahren vor seinem Haus in Zarzis, um sein Haus herum, mit den gesammelten Gegenständen ein Museum errichtet, unter offenem Himmel. Eine Art Universum, riesige, an astronomische Karten erinnernde Kreise, Skulpturen, alles gebaut aus dem Treibgut, aus Petflaschen, aus Tauen, aus den Planken der untergegangenen Boote, aus den Turnschuhen. Lihidheb Mohsen, er ist ein Künstler, einer, der aus dem, was das Meer an Verzweiflung zurückspült, aber auch aus ökologischem Gewissen heraus, der Natur und den Menschen ein Denkmal und ein Ort der Erinnerung errichtet hat, es ist einzigartig auf der Welt.
Wir sehen ihn, wie er geht, den Strand reinigt, sammelt – eine Boje, ein Brett, Petflaschen, zu Dutzenden.
Und ja, er hat auch schon Leichen gefunden, auf seinen morgendlichen Gängen.
7.
Es gibt eine, die sammelt nicht Dinge aus dem Meer, die legt sich kein Museum an mit Dingen, die sie vom Meer aufgesammelt hat. Sie hat sich ein lebendiges Museum angelegt, oder besser: einen kleinen Garten im Meer.
Wie wir dahin kommen?
Wir folgen ganz einfach dem Weg, den eine geplante Erdgaspipeline von Algerien nach Sardinien nehmen sollte, ein gigantisches Projekt zu der Zeit, als der italienische Staatspräsident Silvio Berlusconi noch an der Macht war und Grosses träumte. Eine Pipeline, die durch Sardinien hindurch geleitet worden wäre, von dort weiter zum italienischen Festland.
Zum Glück ist aus dem Projekt nichts geworden.
Denn die Pipeline, deren projektierten Verlauf wir nun folgen, es hätte diesen kleinen Garten durchquert und zerstört, den kleinen Unterwassergarten, den wir nun aufsuchen werden.
Er gehört einer Frau, die mir, als ich mit ihr sprach, sagte, sie sei «mehr mit dem Meer verbunden, als mit dem Land». Chiara Vigo, in die Jahre gekommen, wohnhaft in Sant’Antioco, ganz im Süden Sardiniens, sie steigt noch jede Woche einmal ins Meer, um ihren Garten zu besuchen, ihre Zöglinge. Vielleicht treffen wir sie an, wenn wir die seichten Gewässer rund um Sant’Antioco erreichen, Chiara Vigo mit ihrer Taucherbrille, und vielleicht führt sie uns herum, zeigt sie uns: ihre Seidenmuscheln.
Seidenmuscheln, das sind die geheimnisvollen Bewohner der Tiefen, grosse Muscheln, bis zu einem Meter gross werden sie, leben still und stumm zwischen den Felsen, sie lieben die Gesellschaft der Posidonia, des Meeresgrases, das im Mittelmeer für die stete Zufuhr an Sauerstoff sorgt. Schimmernd ihr Inneres, das Äussere oft grau, von anderen Muscheln überzogen, sie leben diskret, die Seidenmuscheln. Als wüssten sie um die Kostbarkeit, die sie an sich tragen.
Chiara Vigo kennt sie, und sie zeigt sie uns, die Kostbarkeit. Die feinen, aber enorm starken Fäden, mit denen die Seidenmuschel sich festkrallt im Meeresboden, sie sind der Rohstoff für das, was Chiara Vigo als das «Gold des Meeres» bezeichnet – Fäden wie Seide, goldschimmernd, kostbar, die Muschelseide.
Früher gab es auf Sant’Antioco und im Golf von Taranto, aber auch auf Sizilien, eine schon fast industrielle Gewinnung von Muschelseide. Kostbare Gewänder, vor allem kirchliche wurden mit Muschelseide bestickt, reiche Familien leisteten sich Decken mit Stickereien aus Muschelseide; aber längst gibt es diese Industrie nicht mehr, die Seidenmuschel wurde um ein Haar ausgerottet, sie steht heute unter strengem Schutz.
Und Chiara Vigo, die Frau des Meeres, sie wacht über Seidenmuscheln im Golf von Antioco.
Sie weiss, dass das Meer, das Wasser, die ganze maritimie Umwelt gesund sind, wenn es den Seidenmuscheln gut geht; denn Seidenmuscheln sind sogenannte Bioindikatoren, werden in vielen wissenschaftlichen Projekten verwendet, um die Qualität der Meeresumwelt zu messen.
Die wenigen Fäden, die sie sorgfältig bei den Seidenmuscheln wegschneidet, immer nur so viel, dass die Seidenmuschel, der «bisso», wie er in Italien genannt wird, keinen Schaden nimmt – die wenigen Fäden verarbeitet sie in ihrem kleinen «Museo del Bisso» in Sant’Antioco. Auch dorthin wird sie uns führen, bei unserem Besuch, wird uns zeigen, wie sie die Seide verarbeitet, zu langen, goldenen Fäden, die aus dem Meer kommen.
Sie wird sagen, uns und allen Besuchern, die zu ihr ins Museum kommen, und es sind viele, die kommen: dass wir Acht geben müssen auf das Meer.
Und wenn wir Glück haben, wird sie uns ihr Gedicht rezitieren, ihr Gedicht ans Meer, in dem es heisst:
Che sia la mia vita
per Essere, Pregare e Tessere
per ogni gente
che da me va e da me viene
senza tempo, senza nome, senza colore, senza confini,
senza denaro
Mein Leben, sagt Chiara Vigo, ist Dasein, Verehren und Weben / für alle Menschen / die von mir weggehen, die zu mir kommen / die Zeitlosen, Namenlosen, von jeder Hautfarbe, ohne Grenzen / und ohne Geld.
Ich danke Ihnen.