Mittelmeer, und was daraus wurde
Mittelneer, und was daraus wurde
Von Christoph Keller
Es gibt auf der Insel Lampedusa eine kleine Kappelle, weiss getüncht, sie steht mitten in der Landschaft. Die Fassade schlicht, ein schlanker Turm, und hinter dem Eingang eine Grotte mit drei Gebetsstätten, eine für Juden, eine für Muslime, eine für Christen.
Das Santuario della Madonna di Porto Salvo war über Jahrhunderte ein gemeinsamer Gebetsort für alle, die hier einkehren wollten. Sie war ein Zufluchtsort für Schiffbrüchige, die in der Kapelle stets warme Decken und etwas zu essen vorfanden, bereitgelegt von den Bewohnern Lampedusa.
Die Tradition, dass man Flüchtlingen zu Hilfe kommt, hat sich gehalten, auf Lampedusa. «Wenn Lampedusa in der Lage ist, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Einwanderungs- und Asylpolitik in Europa ändert, dann wäre das meiner Meinung nach eine tolle Sache», sagte die Bürgermeisterin der Insel, Chiusi Nicolini, in einem Interview.
Auch die Stadt Tarifa, ganz im Süden Spaniens gelegen, ist offen für jene, die übers Meer kommen.
Die Kleinstadt, im Sommer von Touristen überrannt, war seit vielen Jahrhunderten Durchgangsort für Menschen aus allen Gegenden. Berber, Fatimiden, Wikinger, Mauren, Spanier haben sich hier aufgehalten, die Stadt erobert, Handel getrieben, sich bekriegt und nebeneinander gelebt. Heute leben in Tarifa Menschen wie Nieves García Bonito, sie ist Lehrerin und erzählte mir, wie sie immer wieder mit ihren Schülern den Flüchtlingen zu Hilfe eilte, wenn sie auf dem Strand vor der Schule anlandeten. «Und viele legen über Nacht Kleider und etwas zu essen vor die Haustüre, für die Flüchtlinge», sagte sie.
Das Mittelmeer ist umgeben von Orten wie Tarifa, wie Lampedusa. Sie tragen die Spuren der vielfältigen, oft kriegerischen, oft aber auch friedlichen Begegnungen von Menschen mit unterschiedlichen Religionen, Kulturen. Auf Djerba, der Insel auf Tunesien, befindet sich nach wie vor die grösste Synagoge im Maghreb, eine Kirche auch, und die Spuren maurischer Zivilisation finden sich nicht nur in Spanien, sondern auch versteckt an kleinen Orten wie Amalfi, wie Carloforte. Und es gibt, rund ums Mittelmeer, gerade an den Küsten, gerade deshalb Städte und Dörfer, die Flüchtlinge offen empfangen. Orte, von denen wir noch nie etwas gehört haben. Acireale auf Sizilien, wo Freiwillige den Flüchtlingen italienisch beibringen, auch in Catania, wo viele ankommen, wird geholfen, vielerorts. Nicht von den Behörden, von Freiwilligen.
Einmal mehr zeigt sich, dass diejenigen, die lange schon unmittelbar mit den sogenannt Fremden zu tun hatten, wenige Ängste haben. Sie leben (bei allem Konflikten) die Tradition des Mittelmeers fort, einen Raum des Tauschs, des Austauschs, des Widerspruchs auch. Sie sind, wie es der grosse Mittelmeerforscher Fernand Braudel ausdrückte, Ausdruck einer «aus Ungleichartigem zusammengesetzen Welt», die vielgestaltig ist und in steter Veränderung, in der Kriege ebenso Tradition haben wie grossherzige Gastfreundschaft.
Die Grenzen werden woanders gezogen.
Sie werden dort ausgedacht, wo die Realitäten nur von fern gesehen werden, in den europäischen Hauptstädten, in Brüssel. Grenzziehungen, die im Widerspruch stehen zu dem, was den Raum des Mittelmeers ausmacht – sie werden sichtbar an den Zäunen von Melilla, an den Grenzbefestigungen in Griechenland. Sie zeigen sich im Stadion der Insel Kos, wo Flüchtlinge zusammengepfercht werden, sie werden markiert mit bei der Installation gigantischer Radaranlagen in der Strasse von Gibraltar.
Das Mittelmeer ist in den Köpfen vieler zu einer Grenze geworden, die es zu verteidigen gilt vor denen, die übers Meer kommen, von weit her. Aber vielleicht hilft erstmal die Einsicht, dass diese Grenze zu nichts nütze ist, weil sie ohnehin überschritten wird, unter Einsatz des Lebens.
Und vielleicht ist es auch hilfreich, in einer Zeit, in der Flüchlinge an die Haustüren in Passau klopfen, in Mailand stranden, in Calais auf ihre Weiterreise hoffen, den Raum des Mittelmeers neu zu denken. Denn er ist weitläufig geworden, gross. Er reicht von Timbuktu, Nouakschott, Mossul, Tanger und Teheran weit hinein in den Norden, reicht bis nach Birmingham, nach Oslo, nach Wien, nach Bümplitz, also überallhin, wo Menschen anlanden, die übers Meer gekommen sind.
Dort sind jetzt mediterrane Tugenden gefragt, wie im Santuario della Madonna di Porto Salvo auf Lampedusa.
Erscheint in «Die Stimme», dem Organ der Anlaufstelle für Sans Papiers in Basel