Über Suffizienz
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Nehmen wir die Medien als eine Form und eine Art der Beschreibung von Welt, so stellen wir fest, dass weitherum Disparität herrscht, und zwar im wörtlichen Sinn von disparatum, also abgesondert, abgetrennt. Ein Nebeneinanderher von medialen Diskursen, getrennte Anschauungen über das was ist, nicht nur bedingt durch unterschiedliche Perspektiven auf das selbe Phänomen, was legitim ist und auch banal, auch nicht nur durch die Aktualität, die für sich genommen schon zu immer neuen, abweichenden, korrigierenden Einschätzungen führt.
Nein, die Disparität ist fundamental und sie findet ihren Ausdruck in einem gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen, letztlich auch technischen Dilemma, das bis heute ungelöst erscheint – der Dominanz des Wachstums und dem Imperativ der Nachhaltigkeit.
Blicken wir in eine Zeitung, nehmen wir ein Beispiel (1):
Am 18. März, im Nachgang zur Abstimmung zur Zweitwohnungsinitiative, brachte die NZZ am Sonntag ein umfangreiches Dossier, in dem zunächst dargelegt wurde, wie in der Tourismusgemeinde Lech in Österreich der Tourismus auch ohne Zweitwohnungen floriert. Ein Foto zeigt die Gemeinde von oben, und der Blickfang Bildlegende lautet «Eine Postkartenidylle, die weder durch Chalet-Siedlungen noch Bausünden verschandelt wird». Begleitet wird der Haupttext durch einen persönlichen Beitrag des Bündner Chansonniers und Geschichtenerzähler Linard Bardill, der mit den Worten schliesst «Die Touristiker, die alle die gleichen drei Bücher im Regal zu haben scheinen, sollen endlich lernen, was nachhaltig und ortsbezogen heisst, statt zu wiederholen, was es eh überall schon gibt. Und wir müssen die Kuh wieder streicheln, die uns die Milch gibt, die Hühner plfegen und den Piz Beverin grüssen, der in schönster himmelblauer Horizontlinie friedlich und noch ganz im Winterschlaf über dem Tal träumt».
Die Botschaft auf dieser Doppelseite lautete, in der Eindeutigkeit der beiden Titel «Respektieren wir die Seele der Alpen – laugen wir die Natur nicht aus» und «Es geht auch ohne».
Acht Seiten weiter hinten, also mit gebührendem editorischen Abstand, finden wir in der selben Ausgabe der NZZ am Sonntag einen Beitrag mit dem Titel «Kahlschlag bei Baufirmen im Berggebiet» mit der alarmierenden Ankündigung, es seien durch die Umsetzung der Initiative in der Schweiz gegen Zweitwohnungsbau über 10'000 Stellen gefährdet. Mit einigem, nicht ganz unbegründetem Pathos, heisst es da «Zwischen 90 und 110 Millionen Franken jährlich flossen zuletzt allein im Kanton Graubünden in den Zweitwohnungsbau, rund 10 Prozent des Bauvolumens der Region. Damit ist nun Schluss», und es wird mit einiger Dramatik darauf hingewiesen, dass durch die Annahme der Initative, nicht nur Arbeitsplätze gefährdet sind, sondern auch Finanzierungsmodelle für Hotels, Steuereinnahmen, und, will man es allgemeiner formulieren, die ganze Wertschöpfungskette im Alpenraum, so, wie sie in den letzten fünfzig Jahren praktiziert wurde.
Zwei dramatische, geradezu emotionale Beiträge in einer Sonntagszeitung – einmal ein Plädoyer für ein «Geniessen der Bergwelt, ohne Raubbau an ihr zu betreiben», ein andermal eine heftige Warnung, dass durch die Annahme der Zweitwohnungsinitiative «Fest steht: Bauwirtschat und Tourismus werden heftig leiden», einmal ein Plädoyer für Nachhaltigkeit, ein andermal ein Aufschrei wegen eines befürchteten Wachstumsknicks.
Nur ein Beispiel unter vielen.
Auf der Wirtschaftseite ein Bericht über den erfreulich hohen Auftragsbestand und die intakten Wachstumserwartungen bei Airbus, auf der Wissensseite eine Reportage über das solarbetriebene Flugzeug von Betrand Piccard, im Inlandteil eine Statistik über die Arbeitsproduktivität der OECD-Länder im Vergleich, auf der Seite «Leben» ein Aufsatz über die gestiegene Burn-out-Rate, auf den Auslandseiten der Bericht über die neuesten, desaströsen Klimawarnungen des IPCC, auf der Seite «Reisen» eine Reportage über Trekking in Patagonien, pauschal inklusive Flug für nur 5430 Franken, und so weiter, und so fort.
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Nun aber ich möchte mich dem Thema Suffizienz und seinen Implikationen nicht von der Seite des Energiekonsums her nähern (den wir alle senken müssen), auch nicht vom Blickwinkel unseres Konsums allgemein (der exorbitant ist), auch nicht vom unserer Ressourcenverschwendung (die dringend gebremst werden muss).
Lassen Sie mich das Thema von der Seite der Sprache und der Kommunikation behandeln.
Halten wir fest:
Wir haben es beim Wachstum und bei der Nachhaltigkeit mit zwei unterschiedlichen Diskursen zu tun, genauer – im Verständnis von Michel Foucault sind das diskursive Formationen, die, so hat das Michel Foucault beschrieben, gekennzeichnet sind dadurch, dass man «in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte», also eine Art Regelhaftigkeit, mit der man «in dem Fall, in dem man bei Objekten, den Typen der Äusserung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmässigkeit definieren könnte»[1]. Diskursive Formationen sind also, so beschreibt das Michel Foucault, bestimmte regelmässig wiederkehrende, regelhaft aufgebaute Redens- oder Schreibarten zu einem definierten Thema, in dem, und darauf legt er wert, immer auch bestimmte Wörter explizit vermieden werden; diskursive Formationen funktionieren nach dem Prinzip von Integration und Ausschluss – bestimmte Elemente des Redens werden aufgenommen, andere werden ausgeschlossen, und sie sind dabei eindeutig zuordbaren Formationsregeln unterworfen. Solcherart Diskurse sind, im Verständnis vom Michel Foucault, immer auch mächtige, denn sie treten mit einem Anspruch an – dem Anspruch, das Denken und das Verstehen der Rezipienten zu bilden und zu gestalten, «ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst.»
Konkret:
Der Werbespot für den Up! von Volkswagen ist Teil einer Diskursformation, aber auch der Artikel über die soeben erworbene Villa von Adele in der Zeitschrift Closer ist Teil einer Diskursformation, ein dicht gefülltes Regal in einem Supermarkt ist auch Teil einer Diskursformation, und auch der Rasenmähervergleichstest in der Sendung Kassensturz des Schweizer Fernsehens gehört ebenfalls zu einer bestimmten Diskursformation. Der Philosoph Giorgio Agamben hat solche Formationen «Dispositive» genannt und präzisierend festgehalten, «J’appelle dispositiv tout ce qui a, d’une mainère ou d’une autre, la capacité de capturer, d’orienter, de déterminer, de modeler, de contrôler et d’assurer les gestes, les conduites, les opinions et les discours des êtres vivants», und er hat, in seinem berühmt gewordenen Essay Qu’est-ce qu’un dispositif? denn auch – in Verschärfung der Ansätze von Michel Foucault – deutlich gemacht, dass diese Dispositive mit Macht zu tun haben. Sie sind Instrumente zur Steuerung, sie sind der Hebel zur Beeinflussung, das Dispositiv ist, in den Worten von Giorgio Agamben «avant tout une machine qui produit des subjectivations et c’est par quoi il est aussi une machine de gouvernement». Gouverner, das ist hier wiederum klar verstanden im Sinne von Michel Foucault, der das gouverner immer auch als gouvernementalité verstanden hat, also als Mittel zur Steuerung der mentalité. Giorgio Agamben geht hier noch einen Schritt weiter und spricht von einer Entsubjektivierung – Dispositive, schreibt er, «n’agissent plus par la production d’un sujet, mais bien par des processus que nous pouvons appeler des processus de désubjectivation», und in dieser Entsubjektivierung, in diesem Verlust des «moi», in diesem Unterworfensein im Diskurs, gibt es, so Giorgio Agamben, auch kein Entrinnen, keinen eigenen Sinn, keinen möglichen Widerspruch. Man ist gefangen in der Wirkungsmacht des Dispositivs, und dies gilt ganz besonders dort, wo wir es mit technischen Artefakten zu tun haben – da sind wir, als Benutzer von Mobiltelefonen oder von Fernsehapparaten oder von Ipads oder von Skype oder von Hybridautos oder von Elektrovelos oder von Solaranlagen beherrscht von vielfältigen, differenzierten, komplexen Dispositiven, die, und darauf weist Giorgio Agamben hin, «sont, à leur tour, le résultat du dispositiv médiatique dans lequel ils se trouvent pris».
Hier also «Kahlschlag bei Baufirmen im Berggebiet», da «Respektieren wir die Seele der Alpen – laugen wir die Natur nicht aus» - zwei unterschiedliche Diskursformationen, würde Foucault sagen, zwei erkennbar differente Elemente von anders gelagerten Dispositiven, würde Agamben ergänzen, beidseits wirkungsmächtige Diskurse, die unsere Zeit und unser Denken, unser Handeln prägen, bestimmen, formen.
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Führen wir uns zuerst das eine, mächtige, grosse Dispositiv vor Augen, es ist so allgegenwärtig, so umfassend, greift als Maschine so fein ziseliert in alle Bereiche unseres Alltags und unseres Denkens ein, dass es wie ein unhintergehbares, elementares Faktum unserer Existenz daherkommt:
Das Wachstum.
Das Wachstum, la croissance, dieser eigentlich aus der Biologie entlehnte Begriff, mit dem die organische Entwicklung von Lebewesen beschrieben wird, ist – als Wirtschaftswachstum verstanden – ein historisch gesehen neuartiges Phänomen, das sich aber mit dem Siegeszug jener Wirtschaftsweise, die wir gemeinhin als die kapitalistische bezeichnen, in kurzer Zeit als Erfahrung und als Idee in unseren Köpfen festgesetzt hat. Festgesetzt in einer Triade von erstens einem ökonomischem Gesetz, das als unhintergehbar daherkommt, zweitens als eine reale Praxis von Unternehmen, Ländern, Privatpersonen, drittens als performative Praxis in Medien, in politischen Diskursen und auch in der Alltagssprache.
Dröseln wir diese Triade einmal auf und betrachten wir die einzelnen Elemente gesondert, so stellen wir fest:
a. dass das scheinbar eherne ökonomische Gesetz des unbedingten Wachstums mehr auf einem Versprechen beruht denn auf einer real notwendigen ökonomischen Gesetzmässigkeit.
Denn das, was wir als Wirtschaftswachstum bezeichnen, ist ein durchaus eindimensionaler Wert, der sich auf einen Parameter bezieht, nämlich auf den Produktionswachstum von Gütern und Dienstleistungen innerhalb einer Nation, auf das sogenannte Bruttoinlandprodukt. Dieser Wert, darauf haben namhafte Ökonomen, unter ihnen auch Hans Christoph Binswanger, hingewiesen, ist deshalb von beschränkter Aussagekraft, weil er einzig den Faktoren Arbeit und Produktivität Beachtung geschenkt wird, nicht aber anderen Parametern, insbesondere den Ressourcen, der Gesundheit, dem Wohlergehen, der Freizeit, der Umwelt und anderen, sogenannt soften Faktoren; eine Einsicht, die dazu geführt hat, dass der französische Staatspräsident Nicolas im Jahre 2008 Sarkozy eine hochkarätige Kommission, geleitet von den Nobelpreisträgern Joseph Stieglitz und Amartya Sen sowie dem Ökonomen Jean Paul Fitoussi eingesetzt hat.
Sie sollte, das war ihr Auftrag, nach anderen Messgrössen forschen, die das Wohlergehen von Menschen bestimmen, und sie sollte auch radikal hinterfragen, ob das BIP überhaupt noch so etwas wie besseres Leben oder Fortschritt oder Ähnliches ausdrückt. Die Kommission kam zum nicht unbedeutsamen Schluss[2], dass Wachstum nicht unmittelbar mit dem realen Glück der Menschen zu tun hat, weil mit zunehmendem Wohlstand das Glück nicht in gleichem Masse zunimmt; die Kommission unter den Ökonomen Stieglitz, Sen und Fitoussi legte aber auch deutlich dar, dass Wachstum als ökonomisches Gesetz nur schon deshalb keine Zukunft hat, weil dieser Planet schlicht nicht genügend Ressourcen besitzt, um auf Jahre und Jahrzehnte hinaus das, was heute unter Wirtschaftswachsstum verstanden wird, zu ertragen. Damit wurden die Voraussagen des berühmten Berichts des Club of Rome, der 1972 unter dem Titel die Grenzen des Wachstums erschien, bestätigt, nämlich «wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht».
Diese Erkenntnis ist fundamental, und sie sollte eigentlich per se schon dazu führen, dass das Wachstumsdogma in der Ökonomie radikal hinterfragt wird; nehmen wir die Einsicht hinzu, dass Glück, Gesundheit, eine intakte Umwelt, Freizeitmöglichkeiten und vieles mehr mit mehr Wachstum nicht zunehmen, läge ein weiteres, gewichtiges Argument vor, das zu einer mindestens kritischen Distanz zum herrschenden Wachstumsdogma zwingen müsste.
Dass dem nicht so ist, liegt daran, dass
b. in Unternehmen, beim Staat, in Versicherungen, aber auch in Privathaushalten nach wie vor eine Praxis des Wachstums vorherrscht. Das Wort «Gewinneinbruch» und die daraus sich ergebenden Folgen, nämlich ein Absturz der Kurse an der Börse trotz realisiertem, nur geringerem Gewinn – dieses Wort zeigt deutlich an, wohin wir in der realen Praxis des Wirtschaftens hingelangt sind: zu einer übersteigerten, beinahe hysterischen Bewertung des Wachstums als allein bestimmende Grösse für erfolgreiches, gutes Wirtschaften. Wer wächst, wirtschaftet gut – dieses Dogma hat sich festgesetzt in den Chefetagen der Konzerne, in der Langfristplanung von KMUs, bis hin zur konkreten, individuellen Lebensplanung, in der ebenso wie in jeder Unternehmung ein Wachstum unterstellt wird, ein Zuwachs an Vermögen, eine Steigerung des Gewinns.
Dass diese Rechnung längst nicht für alle aufgeht, und dass sie, selbst wenn sie für uns individuell rosig aussieht, dennoch einen Trugschluss darstellt, weil das reale Einkommen vieler Bevölkerungsschichten seit Jahren sinkt, und somit auch unser Einkommen nicht real wächst – dieser Umstand hält die meisten nach wie vor nicht davon ab, sich ganz individuell einer Wachstumslogik zu unterwerfen, denn was gut ist für die Grossen, das kann für mich ja nicht schlecht sein. Damit verfestigt und reproduziert sich eine Praxis, die in ihren globalen Auswirkungen nachgewiesenermassen längst als nicht haltbar erscheint, denn nochmals – die Vorstellung vom permanenten, nicht enden wollenden Wachstum ist eine Illusion, möglicherweise eine fatale.
Die Praxis wird deshalb so konsistent weitergeführt, weil sie
c. in den performativen Praktiken, also überall dort, wo über Wachstum geredet, geschrieben, diskutiert wird, in den Presseartikeln, am Radio, Fernsehen, in Zeitschriften und Parlamentssälen, in Fachzeitschriften und in makroökonomischen Vorlesungen, das Wachstum stets noch als ein Glaubenssatz repetiert wird. Der Begriff «negatives Wachstum» verweist auf eine unantastbare, gesetzte Normalität, die Wachstum heisst, genau so gut wie das Wort «Wachstumsrate» auf eine getaktete, gestufte, multiplizierbare Dimension von Wachstum verweist, während die «Wachstumskurve» auf jenen Fetisch verweist, der gemäss dem mittlerweile weit herum gelesenen Essay von Roger de Weck auf den religiösen Charakter des Wachstumsglauben[3] verweist; ein Glaube wiederum, der gemäss der Psychoanalytikerin Julia Kristeva unter Bezugnahme auf Sigmund Freud als einen «archaïque régressif» bezeichnet, der unter anderem darin seinen Ausdruck findet, «que j’adhère à une réligion, que je sois agnostique ou athée, je dis „je crois“ pour faire entendre „je tiens pour vrai“».[4]
In diesem «Je tiens pour vrai», das jedem Diskurs über Wachstum innewohnt, beziehungsweise innewohnen muss, weil das Reden über Wachstum auch die Brüche, die Inkonsistenzen des Wachstums übertünchen muss, allem voran – wie aufgezeigt – den Umstand, dass dieses Wachstum keineswegs allen zugute kommt, dass es auch im allgemeinen Wachstum viele Verlierer gibt, dass Wachstum immer auch endlich ist und in seiner Unbegrenztheit für den Planeten desaströs sein wird.
Das religiös befrachtete Imaginäre, das dem Wachstumsdiskurs anhaftet, transportiert auch stets ein Stück Offenbarung und ein Heilsversprechen, das in den westlichen Zivilisationen (und nicht nur dort) seit spätestens den 1950er Jahren auch erfahren, erlebt werden konnte – der Fortschritt. Mehr Wachstum brachte mehr Waschmaschinen für alle, schonendere Rasierapparate und schnellere Computer, vernetztere Autos und rasend schnelle Handies, man war gehalten in einer kindlichen, quasi oral besetzen Bedürfnisbefriedigung, die mit der Erwartung einherging, dass mir jedem aufstrebenden Konjunkturzyklus und mit jedem Wachstumsschub irgendwelche vorbestehende Bedürfnisse noch besser befriedigt werden würden. Dass dem lange schon nicht mehr so ist, wissen wir mittlerweile, und wir wissen auch aus der Glücksforschung, dass es so etwas gibt wie einen Grenznutzen der Beglückung durch Waren und Dienstleistungen, irgendwann ist genug[5]; aber diesen Umstand anzuerkennen wäre ein ausgesprochen weitreichendes Eingeständnis, dahingehend dass die Wachstumsformel weder Fortschritt verspricht noch Glück.
Ein Dispositiv, das zwar noch immer überaus mächtig ist, dieses Dispositiv des Wachstums, das aber in vielerlei Hinsicht nur noch notdürftig zusammengehalten wird, fast möchte man sagen durch Glaubenssätze, es ist in seiner Essenz doch mittlerweile brüchig geworden und überzeugt, wenn überhaupt, nur noch in seiner Performanz; normative Repetition statt Substanz, möchte man sagen, oder auch Beschwörung statt Essenz, eben «Fest steht: Bauwirtschaft und Tourismus werden heftig leiden».
4
Aber wie steht es mit dem anderen der heute so wirkungsmächtigen Dispositive, dem anderen, der uns sagt «Respektieren wir die Seele der Alpen», also mit jenem auch wirkungsmächtigen, noch nicht durchschlagenden, aber sehr präsentem Dispositiv der Nachhaltigkeit.
Der Begriff der Nachhaltigkeit hat sich eher im Schatten, manchmal als ein Begleiter, sicher aber nie konsitstent als eine Opposition gegen das Wachstum herausgebildet. Mal ist Nachhaltigkeit so etwas wie ein Stachel im Fleisch des Wachstums, mal ist sie ein Feigenblatt, mal der kleine, unscheinbare Komplize des Wachstums.
Etwas systematischer betrachtet:
Ist auch die Nachhaltigkeit, im Sinne Giorgio Agambens, als ein Dispositiv zu betrachten, das seit seiner Festlegung avant la lettre in den fortschrittlichen europäischen Forstgesetzgebungen eine klar umrissene Handlungsanweisung beinhaltet, deren Kern darauf abzielt, wie in der in der kursächsischen Forstordnung von 1560 formuliert, «…daß den Untertanen und Bergwerken, soviel möglichen und die Gehölze ertragen können, eine währende Hilfe, auch eine unseren Ämtern eine vor und vor bleibende und beharrliche Nutzung bleiben möge».[6] Die erstmalige Wiederformulierung dieses Prinzips im Bericht «Die Grenzen des Wachstums» 1972, ihre klare Definition im sogenannten Brundtland-Bericht 1983 sowie ihre Weiterdiskussion im Nachgang zur Umweltkonferenz von Rio 1992, haben zwar den ökologischen Kern des Nachhaltigkeitsbegriffs an sich nicht verwässert; hingegen hat die Ausdifferenzierung des Begriffs in eine ökologische, in eine soziale und in eine wirtschaftliche Nachhaltigkeit dazu geführt, dass sich um diesen Kern herum eine Reihe von Assoziationen und Dissoziationen herausgebildet haben, die den Begriff heute an die Grenze der Brauchbarkeit geführt haben.
Dies vor allem deshalb, weil mit dem doch wirkungsmächtigen Einbezug der ökonomischen Nachhaltigkeit in die drei Säulen der Nachhaltigkeit das wachstumsgeprägte, kapitalistische Wirtschaften zu einem Element der Nachhaltigkeit gemacht wurde. Nachhaltigkeit wurde nicht als ein System neben dem herrschenden Wachstum gedacht, sondern als eines, das einmal in die Wachstumslogik mit eingebunden wird, ein andermal am Prinzip des Wachstums systemimmanente Kritik übt (indem man zum Beispiel von qualitativen, statt vom quantitativen Wachstum redet), ein andermal zwar in fundamentaler Opposition zum Wachstumsbegriff steht (wenn beispielsweise die beschränkten Ressourcen auf der ökologischen Seite des Nachhaltigkeitsbegriffs eingesetzt werden), aber das ist eine Differenz, die nie wirklich zu einer fundamentalen Infragestellung der Wachstumslogik geführt hat; nur aufgrund dieser Unentschiedenheit oder sagen wir Ambivalenz dem Ökonomischen gegenüber war es denkbar, dass man mit Begriffen wie «nachhaltiges Wachstum» operieren konnte, dass Wörter wie «Green Growth» ins Vokabular internationaler Organisationen aufgenommen wurden, und dass Menschen heute meinen, sie verhielten sich nachhaltig, wenn sie von ihren Shoppingtouren nach wie vor mit prall gefüllten Taschen zurückkehren, nur einfach bis oben voll mit Produkten von Manufactum.
Man kann es auch anders sagen:
Nachhaltigkeit ist mit den beiden Pfeilern der Konsistenz, also dem Glauben an eine technische Lösung der Umweltprobleme, andererseits der Effizienz, also der Überzeugung, man könne die Ressourcenfrage mit einer effizienteren Nutzung lösen, zu einem dehnbaren, flexiblen, teilweise auch amorphen Dispositiv mutiert, das in seinen Ausprägungen vom jeweiligen Subjekt je nach den eigenen ökonomischen Interessen anders interpretiert, sozusagen skaliert angewendet werden kann, und zwar auch hier wiederum, wie beim Wachstum, erstens in einem normativen Sinn, zweitens im Sinne einer Praxis und drittens als diskursive Performanz:
a. Nachhaltigkeit als Lehrsatz, als Anforderung, als Herausforderung auch, sie hat sich zu einem zweiten Nomos neben dem Wachstum herausgebildet, das aufgrund seiner Interpretierbarkeit (wie aufgezeigt) allerdings weder eine normative Geschlossenheit noch eine klare Handlungsanweisung beinhaltet.
Wir stellen zwar fest, dass sämtliche normativen, wissenschaftlich gestützten, in Gesetze, Verordnungen oder Handlungsanweisungen gegossene Erkenntnisse, die aufgrund des Konzepts der Nachhaltigkeit gedacht, formuliert und entwickelt wurden, von der 2000-Watt-Gesellschaft über die Ein-Tonnen-CO2-Gesellschaft, vom Berechnen des Ecological Footprint hin zum persönlichen CO2-Rechner, von den Formeln zur Festlegung des Artenschwundes und des Grades der Zersiedelung der Landschaft, von den Werweissungen über das Erreichen von Peak Oil hin zu den wissenschaftlichen Erörterungen möglicher Tipping Points bei der Klimaerwärmung – sie alle haben sich längst verdichtet zu einer Fülle von Erkenntnissen und einem breit abgestützten Wissen, wie es denn sein müsste, wenn Nachhaltigkeit die Welt regieren würde.
Doch wegen seiner impliziten Anbindung an die Marktlogik, die unvermindert nach Wachstum strebt, regiert auch im Bereich der Nachhaltigkeit jene unsichtbare Hand des Marktes, die letztlich die Konturen des Prinzips ständig konterkariert, und zwar auch dann, wenn von einem reformierten, einem grünen, einem nachhaltigen Wirtschaften nach kapitalistischen Prinzipien die Rede ist; schon gar nicht gibt es in der Nachhaltigkeit einen jener Trigger, von denen heute so oft die Rede ist, der einen attraktiven, wirklich sexy Gegenentwurf zum Wachstumsstreben beinhaltete. Nur wenige wagen es, den Gedanken der Nachhaltigkeit so weit zu treiben, dass sie auch die Marktlogik an sich in Frage zu stellen wagen und die fundamentale Wachstumsfrage stellen – ihnen droht, gerade auch angesichts der kriselnden Wachstumslogik, die Exklusion, die gesellschaftliche Ächtung.
b. Und doch hat sich, trotz dieser normativen Inkonsistenz, im Bereich der Nachhaltigkeit eine Praxis breit gemacht, die – wiederum geprägt von der Formel der Konsistenz und der Effizienz – das nachhaltige Denken zumindest partiell, je nach Bildungsstand, Schicht und politischer Einstellung, zumindest zu einem bewusstmachenden Korrektiv haben werden lassen. Man kauft im Coop «bio» ein, ab einer bestimmten Einkommensklasse bedient man sich bei Manufaktur, weil man gelernt hat, dass werthaft länger wärt, man verabscheut billige Produkte aus China, und man kauft Ökostrom, investiert in eine Solaranlage und kauft sich als nächstes einen Toyota Yaris Hybrid, und doch bestimmt auch diese Praxis der Gedanke des «mehr», zumindest des «gleichviel», nicht der Gedanke des «weniger».
Nur keine Einbussen an Konsummöglichkeiten und an Komfort!
Sinnbildlich für diesen Weg steht die Umweltarena in Spreitenbach, das mit der Vorgabe wirbt:
«Die Umwelt Arena macht Nachhaltigkeit und Umwelttechnik für ihre Besucher erleb- und begreifbar. Unter einem Dach finden sie Informationen und Produkte rund ums Thema "modernes, bewusstes Leben". Fachleute und Laien können sich auf über 5400 Quadratmeter informieren und vor Ort Technologien, Produkte und Dienstleistungen vergleichen - übersichtlich und praxisbezogen. ... Dank direkter Lage an der A1 inmitten der beliebten Einkaufszentren Shoppi und Tivoli, CCA Cash+Carry Angehrn und Limmatpark, die jährlich eine Publikumsfrequenz von 10 Millionen ausweisen, werden in der Umwelt Arena jährlich zirka 300'000 Besucher erwartet.»
Oder nehmen wir eine Passage aus dem neuesten Buch von Rudolf Rechsteiner, in dem es heisst:
«Wären alle Schweizer Personenwagen Tesla-Limousinen, würde der Stromverbrauch der 53.3 Milliarden Fahrkilometer (2010) lediglich 8,1 TWh betragen. Das ist weniger als 15 Prozent des Endverbrauchs. Würde eine Schweizer Einkaufsgenossenschaft – zum Beispiel Migros oder Coop – diesen Strom in der Nordsee beschaffen, wären für den gesamten Schweizer Fahrzeugparkt etwa 300 grosse Windturbinen des neuesten Bautyps (7MW) notwendig.»
Man muss sich das sinnbildlich vorstellen, wie die Nordsee aussähe, wenn auch die Deutschen, die Franzosen, die Spanier und die Russen, wenn sie alle auf die Idee kämen, den Strom für ihre künftigen Elektrofahrzeuge mit «grossen Windturbinen des neuesten Bautyps (7MW)» zu beschaffen; oder man muss sich ausdenken, welchen Umsatzschub das auslöst, wenn sich 300'000 Besucher der Umweltarena in Spreitenbach sich für einen Ökokühlschrank entscheiden, für einen stromsparenden Mixer und für einen neen Staubsauger, und die Frage darf gestellt werden, ob nach einem Life-Cycle-Assessment der Austausch all dieser Gebrauchsgegenstände unter dem Strich wirklich nachhaltiger ist. Und die Grünen haben es in ihrem Strategiepapier festgehalten – wir wissen, dass «Effizienzsteigerungen heute in vielen Bereichen durch so genannte Reboundeffekte überlagert werden: Effizienzgewinne werden durch ein Ansteigen der Quantitäten aufgehoben».
Wir ahnen es längst, dass im öffentlichen Reden über die neuen Konsumstrategien, im Reden üner Lifestyle of Health and Sustainability, im öffentlichen Propagieren der Möglichkeit, den CO2-Ausstoss für den nächsten Ferienflug zu kompensieren, und auch in den Werbebotschaften für Manufactum eine kleine, aber gemeine Lüge lauert: die Lüge des grünen immer Mehr, die eine doppelte ist – weil wir wissen, dass wir uns auch das Lohas-Mehr lange schon nicht mehr leisten können, und weil wir uns bewusst sind, dass sich nur eine relativ gut betuchte Schicht der Bevölkerung leisten kann, die Kollateralschäden dieses immer Mehr wegzukaufen oder wegzuzahlen.
c. Dennoch begleitet uns auch hier ein Glaube - der Glaube an die wie auch immer gestaltete Rettung durch andersgestaltete Produkte, Dienstleistungen, neuartige Artefakte durch den Tag, und wir klammern uns an die guten Nachrichten: dass von den zehntausend neu erstellten Einfamilienhäusern in der Schweiz so und so viele mit dem Minergie-Label versehen sind, dass von den neu zugelassenen Autos in der Schweiz so und so viele weniger als 120 Gramm CO2 pro Kilometer emittieren; wir haben gelernt, unseren Glauben an die Handhabbarkeit der Probleme durch den fragmentierten Blick zu stützen, durch ein Reden in sauber aufgeteilten Problembereichen, durch ein Reden in Kategorien, das der Kulturwissenschaftler Zygmunt Baumann folgendermassen problematisiert, indem er schreibt «Die Welt, die in eine Fülle von Problemen auseinanderfällt, ist eine handhabbare Welt. Oder besser, seitdem die Probleme handhabbar sind – erscheint die Frage der Handhabbarkeit der Welt vielleicht niemals auf der Tagesordnung oder wird zumindest unbegrenzt aufgeschoben»[7].
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Das Reden von Suffizienz nun stellt aber genau diese Frage nach der Handhabbarkeit und kommt daher als radikale Hinterfragung sowohl des geschlossen, hermetisch erscheinenden, gleichwohl aber in sich längst brüchigen Dispositivs des Wachstums, wie auch des offenen, dynamisch wirkenden, in Wahrheit aber von allen Seiten her zu vereinnahmenden Dispositivs der Nachhaltigkeit; die Suffizienz, um es vorwegzunehmen, hinterfragt das Wachstum in seiner inneren Logik des immer Mehr und sie gibt dem Konzept der Nachhaltigkeit die innere Schärfung zurück, die es erlaubt, die Frage nach der Verteilung von natürlichen Ressourcen, nach dem Zugang zu Wohlstand und nach der Lebensqualität neu zu stellen.
Mehr noch – Suffizienz ist die theoretische Grundlage für eine neue Verschränkung des ökonomischen und des nachhaltigen Dispositivs, wie noch zu zeigen sein wird.
Doch zunächst – was ist Suffizienz.
Suffizienz ist zunächst einmal ein allgemeiner Appell, ein Wort des schlechten Gewissens, ein moralbehafteter Begriff, der darauf abzielt, die individuellen Entscheidungen des Einzelnen, seine Konsum- und Reisegewohnheiten radikal zu hinterfragen und mit einem mahnenden Zeigefinger zu sagen nunc satis est, nun ist genug.
Das ist ein Problem, mit dem diejenigen sich beschäftigen, die das Umweltverhalten von Individuen und von Kollektiven untersuchen, es gibt viele Studien zur Frage nach Konsumentscheidungen, nach Einkaufverhalten; man hat auch Typologien von Konsumenten erstellt, und man hat untersucht, wie eventuelle Anreize auf die jeweiligen Gruppen wirken. Die Studien allerdings kommen alle zum Schluss (um das hier mal pauschal zusamenzufassen), dass es schwierig ist, beim Verhalten, bei der individuellen Einsicht, bei der persönlichen Einstellung anzusetzen; denn immer stellt sich da die Frage – was hab ich denn eigentlich davon, wenn ich mich begrenze, während ich nicht wissen kann, ob der Nachbar sich eigentlich auch begrenzt.
Das ist also insgesamt kommunikativ ein Problem, wenn man zum Verzicht aufruft, und der Verzichtende kriegt nichts dafür; es gibt keine gute Stimmung. Man fühlt sich zwar besser, aber à la limite, immer doch auch ein wenig verschaukelt.
Besser ist es, den Begriff der Suffizienz, in der Definition von Manfred Linz, nicht als alleinige und losgelöste Strategie zu betrachten, sondern auf die gleiche Stufe zu stellen wie die Effizienz, die in seinem Verständnis «eine ökologische Basisstrategie ist mit hohem Anfangspotential und dauerhafter Bedeutung; es wird niemals darauf zu verzichten sein, Stoffe und Energie so wirksam wie möglich zu nutzen», und auch Konsistenz, betont Manfred Linz, also die Ermöglichung «naturverträglichen Wirtschaftens» sind «für den Fortbestand einer weiter wachsenden Menschheit unentbehrlich»; Suffizienz allerdings fragt nebst alledem ganz grundlegend «nach dem, was genug ist, nach dem, was gut tut, nach dem Ausgleich der Chancen und mit all dem nach einem gelingenden Leben»[8].
Suffizienz ist also, nehmen wir die allgemeine Definition als Basis, die Frage nach der notwendigen Begrenzung, nach dem richtigen Mass, nach den Grenzen des Notwendigen, nach dem, was einem zusteht, und zwar, möchte ich betonend ergänzen, für alle.
Dieses für alle wird in der Diskussion um Suffizienz vielleicht zu wenig betont, weshalb es zielführend ist, die Frage weg von der persönlichen, der individuellen Ebene zu nehmen und auf eine gesellschaftliche zu hieven; und hier sehen wir, dass zwar nicht alles, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten zum Thema publiziert wurde, nicht alles, was an neuen gesellschaftlichen Konzepten und Ansätzen diskutiert wird, kommt unter dem Titel der Suffizienz daher.
Und doch geht es in vielem genau darum:
à die 2000-Watt-Gesellschaft ist die vielleicht älteste und bis heute auch nachhaltig wirksamste Konzeption von suffizientem Wirtschaften. Die Grenze von 2000 Watt wird als klimaverträgliches Limit definiert und impliziert eine ganze Reihe von effizienten und konsistenten, aber auch von suffizienten Massnahmen, indem ausdrücklich auch an Verhaltensänderungen appelliert wird; neuerdings verlangt die Gruppierung «Neustart Schweiz» eine noch radikalere Senkung auf 1000 Watt;
à die 1-Tonnen-CO2-Gesellschaft ist eine neuere, aber auf das gleiche Ziel hinführende suffiziente Strategie, die darauf abzielt, dass der heutige Ausstoss von rund 11 Tonnen CO2, die jeder Bewohner und jede Bewohnerin in der Schweiz verpufft, auf eine Tonne gesenkt werden. Ein radikaler, einschneidender Senkungspfad, bei dem primär auf den effizienten Einsatz neuer, erneuerbarer Energieträger gesetzt wird, der aber ohne drastische Verhaltensänderungen nicht zu erreichen sein wird;
à die décroissance-Bewegung, die vor allem in Frankreich ihre Anhänger findet und die von charismatischen Persönlichkeiten wie Serge Latouche angeführt wird, fordert eine radikale Begrenzung des Wachstums, beziehungsweise ein Nullwachstum. Die Bewegung umfasst sämtliche Denkrichtungen, greift alle effizientorientierten, konsistente Ansätze auf, von der klugen Rohstoffbewirtschaftung über die Energieeffizienz, führt aber klar hin zu einer suffizienteren Lebensweise.
à der Ecological Footprint und Neotopia, jenes geniale Buch von Manuela Pfrunder, bei dem jedem Menschen auf dieser Welt der exakt gleiche Anteil an Gütern zugesprochen wird, gleich viel Land, gleich viel Wasser.
Ob vom Energieverbrauch her gedacht, von der Klimabelastung her gesehen, als Problem der Verteilungsgerechtigkeit oder als allgemeine Wachstumsbegrenzung betrachtet – in allen vier Bereichen geht es um eine allgemeine Strategie der Begrenzung. Begrenzung nach oben, Festlegung von Limiten, und zwar von einer Perspektive her, die sowohl für Ökonomen wie auch für Nichtökonomen eine neue ist: die Perspektive der Gemeinsamkeit und der Endlichkeit von Ressourcen, die Einsicht in die Allgemeinverfügbarkeit dieser Ressourcen und in die Frage nach ihrer Verteilung.
Damit bleibt Ökonomie nicht mehr nur die Lehre des Pursuit of happiness, nicht mehr nur die Lehre von der allseits glücklich machenden unsichtbaren Hand des Marktes, sondern sie wird zu einem Thema allgemeiner Ressourcengerechtigkeit – oder etwas drastisch ausgedrückt: Ökonomie wird wieder zu dem, was sie sein sollte, nämlich zur Lehre vom haushälterischen Umgang mit dem Verfügbaren; darüber muss man reden.
Reden über die Einsicht, dass wir alle mit dem Verfügbaren irgendwie auskommen müssen, mit dem begrenzten Vorrat an Luft, an Wasser, an Erdöl, an Erzen, an seltenen Metallen, an Böden, an Wäldern – damit auch reden über die existenzielle Fragestellung, die darin gipfelt, dass wir erstens uns begrenzen, haushälterisch mit dem Verfügbaren umgehen müssen und dass wir zweitens das Verfügbare nach bestimmten, möglichst gerechten Regeln untereinander aufteilen sollten.
Dieses Reden über Suffizienz verweist direkt auf das, was in der Ökonomie bisher als die «Tragik der Allmende» bezeichnet wurde und wird.
«Tragik» deshalb, weil in den Wirtschaftswissenschaften allgemein davon ausgegangen wird, dass allgemein verfügbare Güter und Ressourcen, eben Allmende, von den Nutzern so weit genutzt werden, bis die Ressourcen ausgeschöpft, am Ende sind; sinnhaftestes Beispiel für diese Tragik ist die Überfischung der Meere, die Übernutzung von Wasserressourcen, die Übernutzung der Athmosphäre und auch der Meere als CO2-Speicher.
Doch es ist das Verdienst von Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom, in ihrem bahnbrechenden Buch The governing of the Commons aufgezeigt zu haben, dass die Nutzung allgemein verfügbarer Güter nicht zwangsläufig zu einer Tragik führen muss, im Gegenteil; aufgrund ihrer Untersuchungen unter anderem der Alpgenossenschaften in der Schweiz und der gemeinschaftlichen Wassernutzung in Spanien hat sie dargelegt, dass gemeinschaftliche Güter dann erfolgreich und auch nachhaltig genutzt werden, wenn klar (unter anderem) definierte Grenzen gesetzt werden, die entsprechenden Regeln den lokalen Bedingungen angepasst sind, die Überwachung der Einhaltung geregelt und abgestufte Sanktionsmöglichkeiten bei Regelverstößen vorgesehen sind.
Dieser Gedanke ist für das Thema Suffizienz von zentraler Bedeutung, denn Elinor Ostrom verweist auf zwei zentrale Elemente, die für einen allgemein akzeptierten, geregelten Umgang mit beschränkten Ressourcen weiterführend sind, nämlich erstens, dass es nicht auf freiwilliger, individueller Basis geht, sondern nur mit klaren allgemeingültigen Normen für alle; und zweitens müssen diese Normen sanktionierbar sein, will heissen – wer sich daran hält, wird belohnt, wer sich nicht daran hält, wird bestraft.
Um diese Frage geht es im Kern bei den Klimaverhandlungen den ganze Zeit, um diese Frage geht es bei der nationalen CO2-Gesetzgebung, diese Frage wird bei der Debatte um eine ökologische Steuerreform verhandelt, darum geht es letztlich auch bei dem Handel mit CO2-Zertifikaten und beim ökologischen Ranking von Unternehmen – immer geht es um das Setzen eines Limits und darum, diejenigen zu sanktionieren, die über der Norm sind. Insofern hat Suffizienz nichts mit einer wie auch immer gearteten Condition humaine zu tun, wie Manfred Linz beklagt, weil es eben «den ökologisch und sozial verantwortlichen Lebensstil nicht geben» wird[9], und Suffizenz hat auch nichts zu tun mit Verzicht, wie die Grüne Partei der Schweiz in ihrem Positionspapier festhält. Vielmehr hat Suffizienz zu tun mit Grenzsetzung und mit der Belohnung derjenigen, die sich an die Regeln halten, und mit der Sanktionierung der anderen, die sich drum foutieren; immer vorausgesetzt, diese Regeln sind allgemein akzeptiert, wirksam und den Zielen angemessen.
Einmal in einem Spiel gedacht:
Setzen wir den Fall, dass die Schweiz sich darauf einigen könnte, den CO2-Ausstoss pro Kopf progressiv über die Jahre fortlaufend auf eine Tonne zu limitieren, und dass für jede Tonne mehr ein Preis X zu bezahlen wäre, dann würden die meisten zunächst zu gemässigten, aber doch progressiven, irgendeinmal, wenn sie nichts unternehmen, dann zu massiven Nettozahlern.
Angenommen weiter, man hätte sich beispielsweise darauf geeinigt, dass die erhobenen Abgaben zur Hälfte in die Entwicklung neuer Technologien investiert, zur anderen Hälfte gleichermassen an die Bevölkerung zurückerstattet würden, dann hätten wir einen doppelten Effekt; nämlich erstens würden diejenigen, die eh wenig CO2 emittieren, und das sind vor allem die ärmeren Schichten, zu Nettoempfängern, und zu Nettoempfängern werden auch diejenigen, die sich bewusst und freiwillig für einen angepassten, energetisch sparsamen, nachhaltigen Lebensstil entscheiden, während die CO2-Sünder sich aus reinem Eigeninteresse fortlaufend darum bemühten, ihre CO2-Bilanz zu verbessern, und zweitens würde durch diese CO2-Abgabe ein technischer Innovationsschub ausgelöst, der es virtuell allen leichter machen würde, ihre eigene CO2-Bilanz zu senken.
Spielen wir diesen Gedanken auf der globalen Ebene durch, so ermöglichte sie all denjenigen Ländern, deren Bevölkerung heute pro Kopf weit weniger CO2 emittiert als bisher, technologisch und wirtschaftlich aufzuholen, eine Zeit lang durchaus auch mit einem gesteigerten CO2-Ausstoss.
Wir können dieses Spiel auch mit anderen Gütern, mit anderen Begrenzungen durchspielen – am Ende kommt immer eine andere Wirtschaft heraus als die, die wir heute haben. Eine Wirtschaft, in der möglicherweise genauer darauf geschaut wird, was für die Lebensqualität, die Gesundheit, das Glück, das Fortkommen der Menschen wirklich wichtig ist; eine Wirtschaft, in der mit einem Mal nicht mehr um die Länge der Motorhaube gewetteifert wird, sondern darum, welches Liegerad die beste Aerodynamik hat, und welche Batterie für welche Wegstrecke ideal ist, und es werden die Städte möglicherweise sich darum streiten, welche die beste Infrastruktur in a walking distance besitzt, nicht zu sprechen von der Konkurrenz um das beste Urban mining system. Mag sein, dass es Regionen geben wird, die ganz auf wirtschaftliches Wachstum verzichten, andere vielleicht werden in einer Kosten-Nutzen-Rechnung zum Schluss kommen, dass es sich lohnt, auf hohes Wachstum, gekoppelt mit hoher Innovation zu setzen.
Aber immer sollte – und das ist für uns, die wir in der Kommunikation tätig sind, von entscheidender Bedeutung – der Bezugsrahmen ein allgemeiner, ein kollektiver sein, ganz im Sinne von Ellinor Ostrom; es braucht eine Verständigung, so etwas wie einen gemeinsamen Nenner in einer Gesellschaft, damit Suffizienz überhaupt eine Chance hat. Und es versteht sich von selbst, dass eine solche Verständigung nur durch demokratische Aushandlungsprozesse und unter Berücksichtigung aller Parameter zustande kommen kann.
6
Die Frage stellt sich – hat die so verstandene, über demokratische Entscheidungsprozesse vermittelte Suffizienz das Zeugs zu einem Dispositiv, also zu etwas, «qui a, d’une manière ou d’une autre, la capacité de capturer, d’orienter, de déterminer, d’intercepter ... les discours des êtres vivants»?
Anders gefragt:
Wie kommen wir zu einer Praxis der Suffizienz, zur freiwilligen Annahme von Normen, die einer Verschwendung der Ressourcen entgegenwirken?
Ja, meine ich, wenn wir die überzeugenden Geschichten, die überzeugenden Argumente dazu haben. Und so sind wir hier zum Schluss an einem Punkt angelangt, an dem der Begriff des Dispositivs um ein Element erweitert werden muss, und zwar um den Aspekt der Narration oder des Narrativs; denn Dispositive gruppieren sich entlang starker, pertinenter, nachhaltiger Narrative, die eingängig und in der Gesellschaft bereits wirksam sind. An diese Narrative muss angeknüpft werden, wenn der Versuch gelingen soll, zumindest gute Gründe für den Gedanken und die Praxis der Suffizienz zu finden; das sind, meine ich, die allerersten und auch die besten Voraussetzungen dafür, dass sich die Narrative vielleicht eines Tages zu einem Dispositiv verdichten.
Bereits heute sind solche Geschichten im Umlauf, und es liegt an Ihnen, sie aufzuspüren – es sind Geschichten, Narrative, die sich durchaus auch im Privaten finden, vielleicht sogar vor allem dort.
Ich denke an die Lessness-Bewegung, an diejenigen Menschen, die sich bewusst dafür entschieden haben, mit weniger auszukommen; die Age of Less, so beschwört es der Direktor des Gottlieb Duttweiler Institutes, Alain Egli, habe bereits begonnen. Aber ich denke auch an die vielen Gemeinden in der Schweiz und in Europa, die sich unter dem Label Energieregionen zu eigenständiger Produktion von grüner Energie aufgemacht haben, mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Man sollte mehr erzählen von den Menschen, die sich um die Wohnungen reissen, die kürzlich in der Nähe von Zürich gebaut wurden, und bei denen der Nichtbesitz eines Autos Voraussetzung für die Miete ist; man sollte mehr reden von denjenigen, die den CO2-Ausstoss ihrer Flüge, ihrer Autofahrten bereits heute freiwillig und ohne zu murren kompensieren.
Aber nicht nur.
Man sollte reden über die Mitglieder von Mobility, über die Genossenschaftler von Solarfirmen, über die Mitglieder von Bürgerforen zum Thema Energiesparen, man denke an Quartiersvereine, die sich gebildet haben, um die Nachhaltigkeit in ihrem Quartier zu fördern; und über diejenigen, die sich an Tauschbörsen beteiligen, an Homesales, an Nachbarschaftsnetze, die in allen europäischen Gemeinden und Quartieren aus dem Kraut schiessen. Denn auch Ökonomie, so würde es Thomas Sedlacek an dieser Stelle zustimmend formulieren[10], ist eine Ansammlung von Geschichten, von Erzählungen, von Parabeln.
Sie alle erzählen vielleicht diese eine Geschichte, die auch das renommierte Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon als zentrale Kategorie der Zukunft ausgemacht hat, es ist die Geschichte des Sozialen. Das Soziale, so schreibt das GDI, wird zur bestimmenden Grösse werden – nicht mehr das Wachstum, nicht mehr der Konsum; man möchte, so lautet grob zusammengefasst sagen, lieber teilen als sich aneignen, lieber gemeinsam erleben als an sich raffen. Oder, in den Worten des Soziologen Alexander Dill, Leiter des privaten Basel Institute of Commons and Economics – Hilfsbereitschaft, Zufriedenheit, Freundlichkeit, Vertrauen, Gastfreundschaft sind «für ein florierendes Gemeinwohl so unentbehrlich, wie es im werteren Sinn die Gemeingüter Bildung, Strassen oder der Zugang zum Meer, zum Wald oder der Wind sind».[11]
Das sind die Werte, schreibt Die Zeit in ihrer Ausgabe vom 12. April 2012, die Menschen dazu bringen, «sich nach immateriellen Gütern umzuschauen, auf die mehr Verlass wäre als auf das flüchtige Geld»; es sind diejenigen Menschen, die in Scharen den Film Intouchables gesehen haben, aus einem ganz bestimmten Bedürfnis heraus, andere Erfahrungen zu machen – die Erfahrung nämlich, «Politikformen zu suchen, die Wohlstand, Lebensqualität und das Gedeihen von Menschen neu zusammensetzen».[12]
Darum geht es, letztlich – begreiflich zu machen, dass Wohlstand, Lebensqualität und das Gedeihen aller Menschen nur mit dem Gedanken der Suffizienz zu haben ist; denn nur wenn wir Fragen nach der Begrenzung der Nutzung in unsere wirtschaftlichen Berechungen mit einbeziehen, wenn wir einsehen, dass wir uns in sehr vielem eben im Bereich der Commons bewegen, der Allmende, wenn wir schlüssig erzählen können, dass es sich bei alledem auch um die Gerechtigkeit geht – nur dann werden wir mit der Suffizienz und, notabene, mit der Nachhaltigkeit ein Dispositiv erarbeiten, das die Menschen aus freiem Willen zu übernehmen gewillt sind.
Da können wir anknüpfen und den Versuch unternehmen, die Menschen da draussen für so etwas wie Suffizienz zu begeistern, zu motivieren, und vor allem: ihnen die Angst zu nehmen vor dem Verlust.
7
Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat.
Diesen Satz von Max Frisch möchte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben.
Referat vor der Jahresversammlung der kantonalen Umweltbeauftragten, Luzern, 09. Mai 2012
Christoph Keller
[1] Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 58
[2] http://www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/documents/rapport_anglais.pdf
[3] Roger de Weck, anderer Kapitalismus
[4] Julia Kristeva, Cet incroyable besoin de croire, Paris, 2007, S. 26
[5] dazu Bruno S. Frey
[6] Wikipedia, Stichwort «Nachhaltigkeit», 20.04.2012
[7] Zygmunt Baumann, Ambivalenz und Moderne, Hamburg 2005, S. 29
[8] Manfred Linz, Weder Mangel noch Übermass, Über Suffizienz und Suffizienzforschung, Wuppertaler Papers Nr. 145, 2004, S. 27.
[9] Linz, S. 30
[10] Thomas Sedlacek, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012
[11] Die Zeit, 19. April 2012, Nr. 17, S. 49
[12] ebenda.