Über Unrecht abstimmen?

Von Christoph Keller

Nun habe ich meine Stimme abgegeben zu dieser Initiative, die vorgibt, etwas durchsetzen zu wollen, die aber, so die mittlerweile gefestigte Meinung, den Rechtsstaat aushebelt. Ich habe abgestimmt über eine Initiative, die, so sagen mir alle ernst zu nehmenden Rechtsexperten, die Grundrechte massiv verletzt, das Völkerrecht verletzt und die bilateralen Verträge. Und ich habe «Nein» gesagt zu einer Initiative, die grundlegende Prinzipien unseres Rechtsstaats aushebelt, unter anderem das Prinzip der Verhältnismässigkeit.

Ein schales Gefühl bliebt da zurück.

Denn ich frage mich, was mir da eben zugemutet wurde mit dieser Stimmabgabe?

Mir wurde gerade eben gerade zugemutet, über eine Unrechtsinitiative abzustimmen, über eine Initiative, die, wenn sie angenommen würde, das Recht mehrfach verletzen würde. Und ich frage mich, ob das eigentlich zumutbar ist in einem Staatswesen, in dessen Verfassung in Artikel 5 zu lesen ist «Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht». Mein Unbehagen ist gross, meine Sorge auch – darf ich denn als Bürger an der Urne dazu aufgerufen werden, über Recht oder Unrecht zu urteilen?

Um es deutlich zu machen:

Nicht der Umstand erschüttert mich, dass eine Gruppe rechtsgesinnter Politiker mit der Idee, die Schweiz von sogenannt «ausländischen» Kriminellen zu reinigen, eine Initiative lanciert. Denn das Schöne an der direkten Demokratie ist ja gerade, dass sich die Anhänger von geschwungenen Kuhhörnern ebenso wie die Freunde eines gesicherten Grundeinkommens zu einem Initiativkomitee zusammenschliessen dürfen, um auf diesem friedlichem Weg für ihr Anliegen einzustehen. Das Schöne an der direkten Demokratie ist, dass hier utopische, manchmal auch abstruse Vorhaben formuliert werden können – etwa die Initiative zur Abschaffung des Sexualunterrichts an den Schulen, oder die Initiative zur Abschaffung der Sommerzeit; und in welchem Land wurde schon über die Abschaffung der Armee abgestimmt.

Kurzerhand – Initianten dürfen vieles, sie dürfen auch über die Stränge hauen.

Aber darf ich von Parlament und Bundesrat nicht erwarten, dass die Abstimmungsfrage, die ich in meinem Stimmcouvert vorfinde, im Rahmen des Rechts steht, egal ob ich für oder gegen eine Vorlage stimme?

Zur Erläuterung:

Die Frage an mich als Stimmbürger, ob der Gotthard mit einer zweiten Röhre zu durchbohren sei, steht im Rahmen des Rechts. Rechtens ist etwa die Frage an mich als Stimmbürger, ob ich auf eine Zukunft mit oder ohne Atomkraft setzen möchte, ob ich mich für oder gegen eine flexible Altersrente ausspreche, ob ich internationale Konzerne stärker besteuern will oder nicht. Rechtens sind diese Fragen deshalb, weil sie ungeachtet des Abstimmungsergebnisses die verfassungsmässige Ordnung nicht sprengen. Wie auch immer die Abstimmung ausgeht – kein Menschenrecht wird verletzt, keine völkerrechtlichen Verträge stehen zur Disposition, niemand wird in seiner Würde herabgesetzt, es kommt zu keiner Diskriminierung.

Anders bei der Durchsetzungsinitiative.

Sie ist eine Unrechtsinitiative, denn hätte ich ihr zugestimmt, wäre ich zum Rechtsbrecher geworden – zum Rechtsbrecher in mindestens dreifacher Weise, und ich hätte den Verfassungsgedanken grundlegend verletzt:

> Rechtsbrecher, weil die Durchsetzungsinitiative einen rigiden Ausschaffungsautomatismus in die Verfassung schreibt, hebelt sie erstens das Verhältnismässigkeitsprinzip, eines der tragenden Fundamente unseres Rechtsstaates, in ihrem Kern aus. Kein Richter, keine Vollzugsbehörde soll mehr einen Ermessensspielraum haben, um zu beurteilen, ob der vorbestrafte amerikanische Staatsbüger wegen eines Verkehrsdelikts, ob die Sozialhilfebetrügerin aus Norwegen die Ausschaffung in ihr Herkunftsland verdient haben; damit folgt diese Initiative einer ähnlichen Rechtslogik wie der eines Schergentribunals in Rakka oder in Riad.

> Zweitens diskriminiert diese Initiative in willkürlicher, nicht nachvollziehbarer Weise einen Teil der hier lebenden Bevölkerung. Sie besagt, dass der Vergewaltiger mit Schweizer Pass, der erst seit ein paar Monaten im Land wohnt, weniger Bestrafung verdient als der Vergewaltiger ohne Schweizer Pass, der seit Geburt in der Schweiz lebt. Damit schafft die Initiative eine Differenz zwischen Autochthonen und Zugewanderten, die zurückgeht auf eine kulturalisierende, letztlich rassistische Ideologie. Sie verletzt, indem sie einzig auf die Kategorie «Ausländer» abstellt, in fundamentaler Weise grundlegende Menschenrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in der Menschenrechtscharta der UNO festgeschrieben sind, von den bilateralen Verträgen mit der Europäischen Union nicht zu sprechen.

> Drittens – der Passus von Absatz 4 («Von einer Landesverweisung kann abgesehen werden, wenn die Tat in entschuldbarer Notwehr (Art. 16 StGB) oder in entschuldbarem Notstand (Art. 18 StGB) begangen wird») unterstellt mit dem Zusatz kann, dass Ausländer, die in einer entschuldbaren Überreaktion auf eine Situation reagieren, eventuell nicht ausgewiesen werden müssen, durchaus aber ausgeschafft werden können. Hier schafft die Initiative ein neues, enges Korsett für das Ermessen des Ausschaffungsrichters – eine Art Sonderrecht für Ausländer, das dem Gleichheitsgebot in durchschlagender Weise widerspricht; von hier aus ist der Weg nicht mehr weit zur Schaffung von Sondertribunalen für «Ausländer».

> Viertens usurpiert die Initiative den Verfassungsgedanken, indem sie sich mit einem Text, der von seinem Charakter her bestenfalls Gesetzesform hat, ins Grundgesetz einschreiben will. Sie macht die Verfassung endgültig zu einer legislatorischen Bastelbude und missachtet den allgemeingültigen Wert des Grundgesetzes. Damit zeigt der Initiativtext, worum es den Initianten letztlich geht, nämlich darum, die Verfassung zum Spielball gerade opportuner politscher Anliegen zu machen, mal auf die eine oder andere Weise populistisch gefärbt; so wird die Verfassung zum Spiegel der Verhöhnung des Rechtsstaates.

Aber nicht nur das.

Ich habe auch über eine Initiative abgestimmt, die (und darauf wurde mehrfach hingewiesen) zu unmöglichen, kaum praktikablen Umsetzungsproblemen führen würde: zu unendlich komplizierten Verfahren, zu einer Kostenexplosion im Strafvollzug (weil der Staat für die Anwaltskosten der Betroffenen aufkommen muss), zu einer Unzahl an Beschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, und so weiter. Und die Durchsetzungsinitiative wird zu einer neuen, verschärften Rechtsunsicherheit führen (sie ist schon nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitative gross genug), sie wird dem Wirtschaftsstandort schaden, weil jeder Arbeitnehmer, der aus dem Ausland hierherzieht, damit rechnen muss, wegen einer Bagatelle (etwa Missbrauch von Sozialgeldern) ausgeschafft zu werden; im besten Fall bleibt die Initiative, über die wir am 28. Februar abstimmen, toter Buchstabe in der Verfassung.

Und mir wird eine Abstimmung über eine solche Vorlage zugemutet.

Die ungeheuerliche Zumutung besteht darin, dass ich dem Dilemma ausgesetzt werde, ob ich mich mit einem Ja ausserhalb der verfassungsrechtlichen Normen stelle (wer für eine verschärftes Vorgehen gegen Ausländer ist, wird automatisch zum Usurpator der Verfassung), oder ob ich ein Nein einlegen soll, um nicht zum Handlanger einer Aushebelung des Rechtsstaats zu werden – auch wenn ich eventuell für eine Verschärfung des Ausländerrechts wäre, könnte ich aus prinzipiellen Gründen dieser Initiative nicht zustimmen dürfen. Indem ich mit einer Zustimmung zu dieser Initiative zum Rechtsbrecher werde, wird nicht nur meine freie Willensentscheidung an der Urne kompromittiert; die Initiative ruft mich und das «Stimmvolk» anhand einer Sachfrage auch implizit dazu auf, mit dem Abstimmungsgang am 28. Februar ein Urteil über Bestand oder Nichtbestand der verfassungsmässigen Ordnung abzugeben.

Darum darf es in einem Rechtsstaat nicht gehen.

Sollten Bundesrat und Parlament aber daran festhalten wollen, nach der Antiminarettinitiative, nach der Ausschaffungsinitiative, nach der Masseneinwanderungsinitiative und nun nach der Durchsetzungsinitative weitere Unrechtsinitiativen vors Volk bringen zu wollen – dann werde ich mit der Teilnahme an der Abstimmung zum Komplizen dieses einen, durchaus furchterregenden Gedankens gemacht: dass nämlich das Volk tatsächlich «immer Recht haben» könnte, wie manche Rechtsausleger zu orakeln derzeit nicht müde werden.

Eröffnet wird damit für die Zukunft diese eine Möglichkeit –  dass Verfassung und Recht tatsächlich in der Disposition des Volkes stehen könnten, und dass «das Stimmvolk» jederzeit Grundrechte, Verfassung und geltendes Völkerrecht aushebeln könnte. Wer, frage ich, gibt mir in diesem Fall die Garantie, dass nicht Abstimmungen zu erwarten sind über (warum auch nicht) die Wiedereinführung der Todesstrafe; und wann, frage ich, muss ich über die Einführung der Folter beim Verdacht auf Terrorismus abstimmen, über ein Heiratsverbot für dunkelhäutige Männer, über städtische Rayonverbote für Flüchtlinge und so weiter.

Es braucht eine Verfassungsdiskussion in diesem Land, und es braucht eine Diskussion darüber, ob das Mittel der Initiative dazu missbraucht werden darf, um aus Verfassung, aus Grundrechten und aus dem Völkerrecht Gurkensalat zu machen. Die Diskussion ist umso dringender, als mit einer Reihe von Initiativen der Kerngehalt der Verfassung mehr als nur tangiert wurde – mit der Minarettverbotsinitiative wird Religionsfreiheit verletzt, die Masseneinwanderungsinitiative verletzt die persönliche Freiheit, auch schon die Ausschaffungsinitiative verletzt den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz.

Es darf keine Gewöhnung geben an diese Art von Rechtsverletzungen.

Und das bedeutet auch:

Dass sich die direkte Demokratie nicht zur Komplizin des Totalitären machen darf, und ich als Stimmbürger soll nicht – im Windschatten einer populistischen Polterpartei – zum Rechtsbrecher werden, wenn ich einer Initiative zustimme. Ich darf mit meinem Stimmzettel auch nicht zum Verfassungsrichter gemacht werden, zu einem, der mit seiner Stimme darüber entscheidet, was rechtens sein darf und nicht. Diese Aufgabe gehört in die Hand eines Verfassungsgerichts – ein Verfassungsgericht kann Rechtsfragen frei von der politischen Agenda beurteilen, frei auch von der perfiden Stimmungsmache einer Partei, frei von der aktuellen Stimmungslage in der Bevölkerung; ausser man möchte, dass die Ereignisse in Köln oder die Zunahme der Flüchtlinge über die Verfassungsentwicklung der Schweiz mitentscheiden.

Darüber sollten wir reden.


Christoph Keller hat Rechtswissenschaften mit Schwerpunkt Völkerrecht studiert, er arbeitet als Redaktionsleiter bei SRF2Kultur und ist freischaffender Autor. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.

Zurück